Langzeitperspektive Corona. Wie können wir lernen, mit der Krise zu leben?
Zu Beginn der Verbreitung des Coronavirus gab es die leise Hoffnung, es handele sich um eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation. Inzwischen zeigt sich, Corona hat uns nicht nur wenige Monate begleitet, sondern führt zu langfristigen, einschneidenden Veränderungen. Die Nachwirkungen des Lockdowns und der weiterhin geltenden Verordnungen in so vielen gesellschaftlichen Bereichen (Wirtschaft, Sozialleben, Kultur, Situation von Familien und schulpflichtigen Kindern und vieles mehr) sind zwar bereits sichtbar, die Langzeitfolgen jedoch nicht in vollem Umfang vorherzusehen. Das Ausmaß an Verunsicherung und Angst in Bezug auf die eigene und die globale Zukunft ist bei vielen Menschen stark gestiegen, auch bei Kindern und Jugendlichen (1).
Einige Menschen konnten in der Anfangszeit der Corona-Krise die Entschleunigung genießen. Andere nutzten die Chance, um lang gehegte Wünsche oder Pläne in die Tat umzusetzen und erreichten positive Veränderungen im eigenen Leben, die ohne Corona vielleicht nicht oder nicht so schnell möglich gewesen wären. Inzwischen werden aber auch bei diesen Menschen und in vielen anderen Bereichen Probleme sichtbar, die mit der unsicheren Perspektive in Bezug auf die Pandemie in Zusammenhang stehen. Immer deutlicher wird: Verunsicherung ist auf Dauer schwer auszuhalten. Was können wir tun, um mit dem zur Zeit besonders hohen Maß an Unsicherheit umzugehen?
Hilfreich ist es, eigene Befürchtungen und Ängste in Augenschein zu nehmen und sie auf eine Art kennen zu lernen, die weniger Angst auslöst. Kurzfristig trägt Angst zwar dazu bei, in einer akuten Situation handlungsfähig zu sein. Langfristig mit Angst zu leben, kann sich jedoch schädlich auf Körper und Seele auswirken (2). Wie lerne ich mit Ängsten umzugehen? Was sind die Voraussetzungen für ein weniger anstrengendes Miteinander im Job und im Privaten?
Manche Menschen leiden mehr unter Corona als andere
Aus verschiedenen Perspektiven können Gegenstände sehr unterschiedlich aussehen – zumindest in der Theorie. Schwierig wird es in der Praxis, wenn keine bzw. nicht ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen, um sich in andere hineinzuversetzen. Die Psychoanalytikerin Verena Kast sagt in einem Beitrag zum Thema ‚Nähe und Distanz‘ (3): „Wer in der Angst ist, hat keine Empathie“. Das erklärt einiges, insbesondere in der aktuellen Pandemie-Situation. Je größer die eigenen Befürchtungen, Zukunftsängste oder das diffuse Unbehagen, umso weniger ist es möglich, Sichtweisen und Empfindungen anderer hinzunehmen oder zu respektieren. In der Introvision sprechen wir dann von einer engen Wahrnehmung oder gar vom Tunnelblick. Die Wahrnehmung kann sehr eng werden, wenn ein Teil des Bewusstseins im Gedankenkarussell unterwegs ist. Einige aktuelle Beispiele:
- Es muss ganz bald einen Impfstoff geben, dann können wir endlich wieder normal leben.
- Es ist kaum auszuhalten, dass es zu Corona immer noch so wenig klare Fakten gibt.
- Ich muss alles am Laufen und unter Kontrolle behalten!
- Ich darf keine Fehler machen und damit mich oder andere gefährden!
- Die Regierung muss aufhören, uns mit widersprüchlichen Regeln zu drangsalieren!
- Es darf keinen zweiten Lockdown geben, sonst werde ich wahnsinnig oder verliere meinen Job…
- Es darf nicht wahr sein, dass so viele sich nicht an die Regeln halten!
- Es ist schlimm, dass jetzt alles wieder fast normal weitergeht.
Diese Gedanken halten eventuell davon ab, im Hier und Jetzt zu sein, sich um die Dinge zu kümmern, die aktuell Priorität haben. Stark emotional aufgeladene Gedanken leiten häufig eher zu dysfunktionalen Strategien. Ein gelassenerer Umgang mit Unsicherheiten würde die Situation individuell und auch im sozialen Umfeld entspannen. Ist weniger Angst da, wird der Tunnel wieder weiter und Lösungsstrategien kommen in erreichbarere Nähe. Stellen Sie sich die Frage: Was ist es genau, was mir Sorgen bereitet, was mir Angst macht? (Siehe auch: „Übungen um den Blick zu weiten“ im Blogbeitrag vom 1.7.2020)
Was sich für den einen gut anfühlt, löst bei einem anderen enormen Stress aus
Unterschiedliche Perspektiven lassen sich gut am Beispiel Homeoffice skizzieren. Die Arbeit in das Homeoffice zu verlagern bietet für manche mehr Spielraum, um den Tagesrhythmus an eigene Bedürfnisse anzupassen. Der Alltag kann, zumindest in Bezug auf die Organisation der Arbeit, autonomer und selbstbestimmter gestaltet werden. Auf der anderen Seite führt der Verlust eines geregelten Arbeitsalltags und der regelmäßigen sozialen Kontakte möglicherweise zu Vereinsamung. Je nachdem, wie die persönliche Lebenssituation ist und wie die Persönlichkeit gestrickt ist, wirkt sich das erzwungene Homeoffice sehr unterschiedlich aus. Kann eine Person ihre Zeit gut selbst einteilen und arbeitet gerne in Ruhe, kann das Homeoffice paradiesische Vorzüge bieten. Es sei denn, es gibt keinen ruhigen Raum und/ oder drei Kinder springen zusätzlich zu Hause noch herum (4), die mehr oder weniger gut von der Schule im Homeschooling begleitet werden. Dann entwickelt sich das eigentlich so paradiesische Homeoffice zur starken Belastung, und das innere Gleichgewicht der einzelnen Person sowie der Familien oder Lebensgemeinschaften gerät ins Wanken.
Ob die mit der Pandemie einhergehenden Veränderungen eher positiv oder negativ empfunden werden, lässt sich nicht mit einfachen Rechenformeln bestimmen. Eine Familie mit zwei berufstätigen Elternteilen und Kindern im schulpflichtigen Alter kann den Lockdown als Entschleunigung genießen, die morgendliche Hetzerei und die durchgeplanten Feierabende und Wochenenden fallen weg. Es ist endlich genug Zeit, um sich vom ständig drehenden Alltagskarussell zu erholen. Es kann aber natürlich auch anders sein. Eine andere Familie, von außen betrachtet ähnlich aufgestellt (Alter, Anzahl Personen, Wohnsituation, Einkommen), gewinnt dem Lockdown möglicherweise nichts Positives ab: Zukunftsängste stehen im Raum, eines der Kinder kommt so gar nicht mit dem Homeschooling oder der sozialen Isolation zurecht, Haushalt und Kinderbetreuung wird zusätzlich zur Arbeit im Homeoffice vor allem von einer Person geleistet [in der Regel von den Frauen (5)], im normalen Alltag nicht sichtbare Konflikte werden nun von Tag zu Tag präsenter – und man kann sich nicht aus dem Weg gehen.
Zusätzlich sind wir alle individuell unterschiedlich, und diese Unterschiede können auch innerhalb von Familien das Miteinander sehr erschweren, wenn es nicht möglich ist, Bedürfnisse Einzelner ausreichend zu berücksichtigen (z.B. Schlaf, Ruhe, Unterhaltung, Ordnung…). Äußere Umstände können die Lebens- und Arbeitssituation ebenfalls positiv wie negativ beeinflussen. Eine kleine Wohnung mit wenig Rückzugsmöglichkeit für das Homeoffice erschwert die Situation und erhöht den Druck und das Konfliktpotential.
Genauso unterschiedlich wird auch die Rückkehr an den Arbeitsplatz empfunden. Für die einen ist es ein Segen: Endlich wieder ein geregelter Alltag, raus aus dem Homeoffice-Mief und den ständigen Online-Meetings. Für andere stellen sich der Arbeitsweg und die persönliche Präsenz als Herausforderung oder gar Bedrohung dar, wenn beispielsweise das eigene Sicherheitsbedürfnis nicht erfüllt werden kann und die Befürchtung vor Ansteckung groß ist. Oder wenn die Stimmung „draußen“ als schwierig wahrgenommen wird, weil es in diversen Situationen erforderlich ist, sich zu Corona und den Schutzmaßnahmen zu positionieren. Es fühlt sich so an, als müsse mit jedem Menschen immer wieder neu verhandelt werden, welcher Abstand und welche Begrüßungsform angemessen sind. Für jene, die ein gewisses Maß an Angst in Bezug auf Corona haben, ist der Kontakt mit Menschen, die ihre Sorgen oder Ängste verdrängen, vermutlich besonders schwer. Es prallen zwei Extreme aufeinander. Menschen, die für sich einen Weg gefunden haben, mit der schwierigen Situation umzugehen und nicht dauernd in der Angst sind, können empathischer mit Vertreter*innen beider Extreme umgehen. Sie können den jeweils anderen ihre Sichtweise und ihr Erleben lassen, ohne sich selbst dadurch bedroht oder in Frage gestellt zu sehen.
All diese Themenbereiche fließen in den Arbeitsalltag mit ein und beeinflussen die individuelle Befindlichkeit und Gruppendynamik in Teams und anderen Bereichen, in denen Gruppen zusammen kommen.
Verantwortung von Führungskräften in Zeiten von Corona
Auch vor Corona stellte die Fürsorgepflicht, die Führungskräfte für ihre Mitarbeiter*innen haben, eine Herausforderung dar. Wann muss ich mich einmischen? Wo würde ich damit eine Grenze überschreiten? Viele Fälle psychischer Erkrankungen hätten womöglich einen leichteren Verlauf nehmen können, würde in Unternehmen besser auf die psychische Belastung der Miterbeiter*innen eingegangen. In Zeiten von Corona entstehen ganz neue Probleme. Führungskräfte sind selbst von der Krise betroffen und stehen nicht nur in Bezug auf den Kontakt zu ihren Mitarbeiter*innen unter Druck. In der Regel gibt es in den jeweiligen Fachgebieten drastische Veränderungen und natürlich auch eine nicht zu unterschätzende Verunsicherung. Der Kontakt zu den Mitarbeiter*innen ist reduziert, in Online-Meetings fehlen viele Details der Kommunikation, und die Situation der Einzelnen bleibt hinter dem Bildschirm oder dem Telefon sehr viel schemenhafter als bei persönlichen Begegnungen. Nicht nur Kinder und Jugendliche haben sich in Medienkonsum und Computerspiele geflüchtet, auch Erwachsene haben zum Teil ungesunde Strategien entwickelt, um temporäre Ablenkung zu finden (Streamen, Alkohol und vieles mehr).
Was kann helfen, um im Team konstruktiv zu arbeiten und Verschlechterungen der psychischen Gesundheit vorzubeugen? Offene und klare Kommunikation. Mit anderen Worten: Was bei Kindern nicht funktioniert, sollten wir auch mit Erwachsenen nicht versuchen. Unklare Kommunikation führt zu Verunsicherung und Missverständnissen. Es hilft nicht, Aussagen oder Versprechen zu machen, wenn diese nicht eingehalten werden können. Das erhöht nur die Unsicherheit und vergrößert die Sorgen. Es erfordert Mut und Klarheit in unübersichtlichen Zeiten authentisch zu bleiben. Wenn eine Person den Ist-Zustand benennen kann, ohne zu beschönigen, zu verdrängen oder den Teufel an die Wand zu malen, hilft es auch den anderen dabei, den aktuellen Zustand zunächst anzuerkennen. Von dort aus kann weitergedacht und geplant werden. Ähnlich wie bei einer Wanderung: Solange ich nicht weiß, wo ich bin (oder mir einrede, an einem bestimmten Punkt zu sein), ist es sehr viel schwieriger, an das Ziel zu gelangen. Der erste Schritt wäre also herauszufinden: Wo stehen wir hier gerade? Der zweite Schritt: Wo wollen wir hin? Der dritte Schritt: Wie kommen wir von hier aus dorthin?
Mit Introvision einen Weg aus der Angst finden, um wieder empathisch sein zu können
Um in diesen herausfordernden Zeiten gemeinsam Ziele zu erreichen, ist es besonders wichtig, eigene Bedürfnisse, Bedingungen und Belastungen zu erkennen und von dort aus auch die der anderen zu sehen. Mit dieser Grundlage gelingt es leichter, andere berücksichtigen zu können. Geschieht das nicht, wird möglicherweise gegeneinander gearbeitet, Überforderungsgefühle entstehen bei einem selbst oder anderen. Am Ende ist dies für niemanden gut. Die individuelle Herausforderung wäre dann, sich der eigenen Angst zu stellen und einen besseren Umgang damit zu finden. Glauben wir Verena Kast, so können wir erst dann wieder empathisch sein, wenn wir selbst nicht mehr in der Angst sind. Und genau hierbei hilft der achtsamkeitsbasierte Ansatz Introvision bei der Umsetzung. Sie erlernen Schritt für Schritt, den Ist-Zustand so wahrzunehmen, wie er tatsächlich ist, ohne ihn zu bewerten. Das kann in der Tat herausfordernder sein, als man zunächst annehmen mag. Sie werden mit der Zeit sensibilisierter für eigene Handlungsmuster, die diesen tatsächlichen Ist-Zustand im Alltag oftmals verzerren – und Angst ist hierfür oftmals ein Grund. Gelingt es, diese nicht-wertende Haltung einzunehmen, erlangt man nicht nur für das eigene Verhalten, sondern auch für das Verhalten anderer Verständnis und kann gelassener und empathischer damit umgehen.
Zusammenfassung
Corona betrifft uns alle sehr unterschiedlich. Dies für sich und andere anzuerkennen, kann insbesondere bei starker individueller Belastung schwer sein. Wenn wir wenig Empathie für die Situation oder das Erleben der anderen erübrigen können, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu mehr Konflikten und dadurch zu mehr Stress kommt. Das betrifft sowohl das Privatleben als auch den Job. Eine Möglichkeit, um aus der Belastung und dem Stress wieder herauszukommen, besteht darin, die Dinge zunächst so anzunehmen, wie sie gerade sind und die Muss/ Darf-Nicht-Gedanken wegzulassen. Dann können die eigenen Ressourcen wieder im „Hier und Jetzt“ eingesetzt werden und Lösungen, die zuvor unsichtbar waren, kommen langsam wieder zum Vorschein. Dadurch erweitert sich die Handlungsfähigkeit, was das Gefühl von Selbstwirksamkeit erhöht. Um sich dem in der Praxis anzunähern, empfehlen wir die mentalen Übungen zum Umgang mit Stress, die an die Introvision und das Konstatierende Aufmerksame Wahrnehmen angelehnt sind.
Praxistipp:
Was kann dabei helfen, das Beste aus der Situation zu machen?
In unserem Blogbeitrag vom 1.7.2020 „Die Routine steht Kopf“ finden Sie alltagstaugliche Übungen, die z.B. dabei helfen, die Dinge so zu sehen, wie sie gerade sind, einen Umgang mit Gedankenkreisen zu finden und ein bisschen In-sich-hineinsehen zu üben.
Hintergrundinformationen zum Thema Stress finden Sie im Beitrag zu „Stress – Ursachen und Wirkung“ vom Netzwerk Introvision.
Sind Sie auf der Suche nach Möglichkeiten, um an die eigenen Ängste heranzukommen oder mit den herausfordernden Situationen umgehen zu lernen? Als Netzwerk Introvision bieten Live- und Online-Einführungen in die Introvision – eine Methode der mentalen Selbstregulation, mit der Sie lernen, „dem Schlimmen ins Gesicht sehen“. Kontaktieren Sie mich!
Quellen:
(1) Copsy-Studie (Corona und Psyche) https://www.rnd.de/gesundheit/uke-studie-kinder-leiden-starker-als-angenommen-unter-corona-3H67YXPOCIJDHUMGPKQGJFDAPA.html
(2) https://www.netzwerk-introvision.de/was-ist-stress/
(3) Verena Kast: Nähe und Distanz – eine Grunddynamik menschlicher Beziehungen (Audio/MP3-CD)
(5) https://www.spektrum.de/news/die-negative-stimmung-hat-mit-der-zeit-abgenommen/1760584
Langzeitperspektive Corona. Wie können wir lernen, mit der Krise zu leben?